Also, heute morgen habe ich es mir auch gegeben... ich kann Big Ben allerdings leider nur widersprechen. Das hat nichts damit zu tun, daß ich Suchet ohnehin für den besseren Poirot halte, aber inhaltlich war es eine Katastrophe!
Wer von dem Inhalt nichts wissen will, der sollte nicht weiterlesen:
Fange ich mal mit dem Positiven an: Filmerisch/Fotografisch ist der Film grandios gut gemacht. Die Kamerafahrten senkrecht am Zug entlang und von oben in die Abteile sind einfach nur klasse.
Bei der Filmmusik ganz genau hinhören: der Haus- und Hofkomponist von Branagh, Patrick Doyle, hat sich eine kleine Hommage an Peter Ustinov einfallen lassen. Wenn der Zug durch die Landschaft fährt, erklingt die Titelmelodie aus "Das Böse unter der Sonne". Das zaubert einem ein Lächeln auf's Gesicht.
Und jetzt hört es leider schon auf. Worin war ich? Bei Indiana Jones? Auf den habe ich schon in der Anfangssequenz gewartet. Wie auch schon im Suchet Film will man wohl unbedingt erklären, warum Poirot im Nahen Osten unterwegs war. Allerdings geschieht das hier keineswegs diskret, sondern vor hunderten von Zuschauern eher in Slapstik Manier ( ich denke nur an den Stock in der Mauer).
Ich kann nicht immer verstehen, warum man die Anzahl und Namen von Figuren aus dem Buch ändern muß. Das hat mir schon bei Suchet nicht gefallen, als man den Doktor zu einem Teil der Intrige machte und Hardman ganz rausließ.
Aber hier kommt es wirklich ganz dick: aus Colonel Arbuthnot wird der dunkelhäutige Doktor Arbuthnot. Häh??? Damit konnte man sich zum Thema Rassismis etwas austoben.
Aus der schwedischen Missionarin Greta Ohlsson wir die Spanierin (Achtung!) Pilar Estravados! Na, klingelt es da? Das ist die Enkelin des Simeon Lee in "Hercule Poirots Weihnachten"! Hatten die keine blonde Schauspielerin oder mußte man unbedingt Penelope Cruz unterbringen?
Aus Antonio Foscarelli wird Beniamino Marquez (habe ich leider auch nicht verstanden) und aus Pierre Michel plötzlich der Bruder des französischen Kindermädchens, das sich im Fall Armstrong umbrachte.
Apropos Armstrong, da zaubert man plötzlich eine Verbindung zu Poirot, der angibt, er habe von Armstrong einen Brief erhalten, um den Entführungsfall aufzuklären, aber dazu sei es zu spät gewesen. Dazu vermasselt man die wundervolle Szene, in der Poirot aufgrund des verbrannten Zettels die wahre Identität Ratchetts herausfindet. Auf die Hutschachteln könnt ihr vergeblich warten. Man war nicht mal in der Lage den richtigen Text des Zettels aufzuschreiben.
Das man sich etwas inhaltliche Freiheiten nimmt, das ist normalerweise völlig in Ordnung, aber hier geht es mir entschieden zu weit. Poirot hängt man auch noch eine schmerzvolle Liebesgeschichte an, indem man ihn schmachtend vor ein Foto einer Katharine setzt, mit der er dann als seine Liebe spricht! Geht's noch??? Hätte man ihm wenigstens ein Foto von Vera Rossakoff gegeben!
Branagh hat eindeutig seine Stärken, wenn er die Befragungen durchführt, aber warum zum Teufel muß er über das Dach des Zuges spazieren, ein Picknick im Schnee abhalten, mit einem Flüchtigen kämpfen und dabei durch die Holzbrücke krachen und wird auch noch angeschossen! Hatte ich das mit Indiana Jones schon erwähnt?
Die Kritikerin der FAZ hat es in meinen Augen genau getroffen: dieser Poirot hat keinen Charme. Die Schlußszene bei der Aufklärung des Falles ist so melodramatisch überzogen, als Poirot anbietet, daß man ihn erschießen kann, damit die Wahrheit nicht rauskommt.
Leider nehmen sich die Leute, die die Bücher nicht kennen, jetzt den Film als Maßstab. Aber dieser Film hat in meinen Augen nicht besonders viel mit der wirklichen Figur des Poirot aus den Büchern zu tun. Wenn der den Drehbuchautoren zu langweilig ist, dann sollen sie es bleiben lassen, aber bitte keinen Actionstar aus ihm machen. So gerne ich auch Suchet sehe, aber die Verfilmung von Lumet ist die getreueste. Die Suchet Verfilmung hat einen anderen Ansatz, zeigt aber das Problem auf, mit dem Poirot kämpfen muß. Moral gegen Gesetz. Das nimmt man Branagh hier überhaupt nicht ab.
Wie hat es Mr. Hicks, Schwiegersohn von Agatha Christie, doch so schön gesagt: "Wir lachen mit Poirot, aber nicht über ihn." Hier kann man nur über ihn lachen, weil seine Eigenarten nicht als charmante Selbstverständlichkeiten transportiert werden, sondern als Lächerlichkeit.
Aber Mark kann sich freuen: im Abspann taucht als ausführender Produzent der Urenkel von Agatha Christie auf, einer aus der Pritchard-Sippe. Er macht genauso weiter wie sein Vater: Hauptsache die Kasse stimmt. Berufsurenkel.
Und der letzte Wortwechsel... darüber konnte ich gar nicht lachen. Klingt eher nach der Drohung, daß man uns noch einen Film antut.
Meiner Meinung nach hat man eine große Chance weggeworfen, indem man viel zu viel am Inhalt geändert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob der Drehbuchautor je das Buch gelesen hat. Man kann eine großartige Geschichte auch ruinieren. Wahrscheinlich fällt es aber nur uns auf, weil wir die Bücher zu gut kennen. Das normale Publikum wird sich gut unterhalten haben, da es die gravierenden Unterschiede nicht kennt. Aber ist das der Preis?